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Leonardo da Vinci wäre heute auf GitHub
Das Genie Leonardo da Vinci hinterließ bei seinem Tod vor 500 Jahren Unmengen an Aufzeichnungen. Seine Erben wussten nicht so recht damit umzugehen. Sie mischten und verkauften viele der Skizzen und Notizen. Einige davon gingen dadurch wohl verloren. Hätte der Meister damals ein Tool von Linus Torvalds nutzen können, wäre das nicht passiert. Und am Ende hat beim Nachlass von Leonardo sogar auch noch Bill Gates seine Finger im Spiel.
Leonardo da Vinci hinterlässt Wissen in Papierform
Vor 500 Jahren, am 2. Mai 1519 starb Leonardo da Vinci in Amboise, einer kleinen Stadt an der Loire im Herzen Frankreichs, wo er die letzten drei Jahre seines Lebens verbrachte. Er hinterließ eine Unmenge an Dokumenten: Notizen über Beobachtungen von Licht und Schatten, über den Fluss von Wasser, über optische Phänomene, über die Astronomie, das Mondlicht, den menschlichen Körper und vieles mehr. Dazwischen, manchmal unerwartet, wie falsch einsortiert, finden sich Skizzen technischer Geräte. Von Kriegsmaschinen, einer Art prähistorischem Hubschrauber oder einem Panzerwagen aus Holz. Leonardo da Vincis Aufzeichnungen waren eine weitgehend chronologische Aneinanderreihung seiner Ideen, Erkenntnisse und Zeichnungen. So taucht auch eine ordinäre Einkaufsliste auf, irgendwo zwischen dem Plan einer Hängebrücke und einer anatomischen Skizze.
Leonardo da Vinci hat viel aufgeschrieben in seinem Leben. Wahrscheinlich waren es deutlich über 2.500 Seiten. Handschriftlich natürlich. Er dokumentierte einfach alles. Immer wieder, wenn ihm etwas auf- oder einfiel oder er etwas untersuchte, verfasste er eine detaillierte Dokumentation darüber oder fertigte eine Skizze im Notizbuch an, das er gerade mit sich herumtrug. Ende des 15. Jahrhunderts konnte man nicht wählerisch sein, wenn man etwas aufschreiben wollte – Alexa und Siri gab es nicht, auch keinen Palm oder Psion. Selbst die verwendeten Notizmöglichkeiten waren eher rar gesät, weshalb er nutzte, was gerade an Papier verfügbar war. Es fanden sich Notizbücher und über zweitausend lose Blätter in den Größen von 7 x 10 cm bis hin zu 22 x 31 cm im handschriftlichen Nachlass da Vincis.
Die Kunst der geheimen Dokumentation
Unbestritten ist, dass da Vincis Talent in allen Bereichen der Kunst außergewöhnlich und anders war. Aber auch die Normen der damaligen Gesellschaft brach der rastlose Forscher permanent. Seine detaillierten Zeichnungen des menschlichen Körpers verdankt er nächtlichem Sezieren von Leichen im Kellergewölbe des Santa Maria Nuova Hospitals in Florenz. Ein Tabubruch gegen die katholische Kirche, die die Störung der Totenruhe mit schweren Strafen versah. Aber auch sein privates Leben wich stark von den Vorgaben ab, die sich die starre Gesellschaft seiner Zeit auferlegte. So war da Vinci homosexuell und Linkshänder, zwei Eigenschaften, wegen derer man zur damaligen Zeit bestraft oder umerzogen wurde.
Während seine Leidenschaft für männliche Partner ihn vor Gericht und in Schwierigkeiten brachte, nutzte Leonardo seine ausgeprägte Linkshändigkeit zu seinem Vorteil. Der Meister der Renaissance dürfte der bekannteste Mensch sein, der fast alles in Spiegelschrift schrieb. Diese Gabe hat er höchstwahrscheinlich auch genutzt, um seine Aufzeichnungen vor neugierigen Augen zu schützen. Nur wenige konnten Lesen und Schreiben, und die meisten von denen taten sich somit doppelt schwer, den Inhalt seiner Notizen durch einen kurzen, schweifenden Blick über die Seite zu erfassen.
Die Pariser Manuskripte entstehen
Mit seinem Tod 1519 erbte Leonardos Schüler Francesco Melzi seine Notizen. Hunderte Seiten unterschiedlicher Größe und permanent wechselnde Themen. Manche Seiten lose, andere als Büchlein gebunden und mit einer Kordel verschlossen. Ein Sammelsurium an Themen und Formaten. Hätte das Genie sein Wissen heute anders dokumentiert, wenn er es zu Lebzeiten gekonnt hätte? Was wäre sein Tool gewesen? Ein Content Management System? Oder eher ein Repository wie CVS oder Git? Vermutlich wäre es Git gewesen. Zumindest ab dem Zeitpunkt, als auch Francesco Melzi starb und die ganzen Unterlagen an dessen Sohn übergingen. Der hatte nämlich nichts Besseres zu tun, als die Aufzeichnungen da Vincis zu Geld zu machen. Zu diesem Zweck wurden die Notizbücher laienhaft thematisch sortiert. Es wurde gemischt, getauscht, geklebt und wohl auch geschnitten. Heraus kamen mehrere „Werke“, Codex genannt, die anschließend verkauft wurden und deren überwiegender Teil heute als „Pariser Manuskripte“ bekannt ist. Sie sind durchnummeriert von A bis M.
Wie die tatsächliche Reihenfolge der Aufzeichnungen war, ist teilweise unbekannt. Zudem schnitt 1840 der Bücherdieb Guglielmo Libri (ja, der Bücherdieb heißt wirklich Libri) zehn Seiten aus Codex A. Offline schützt halt nicht vor Datenklau. Die Seiten tauchten aber zum Glück wieder auf und sind heute als Codex Ashburnham bekannt, da der Sohn des Earls of Ashburnham sie fünfzig Jahre später zurückgab. Trotzdem fehlen wahrscheinlich viele Seiten aus da Vincis Notizen. Welche und wie viele das sind, wird sich vermutlich nie klären lassen. Und auch wenn er keinen Quellcode zu verwalten hatte, ist das der Grund, warum da Vinci heute vermutlich auf GitHub wäre. Das darunterliegende Git bietet nämlich Eigenschaften, die der Meister gern genutzt hätte, um seine Informationen und Daten beisammen zu halten. Eigenschaften, die auch Linus Torvalds fast 500 Jahre später wichtig erschienen.
Die Linux-Kernel-Versionskontrolle hat ein Problem
Im ersten Quartal 2005 standen die Linux-Kernel-Entwickler vor einem Problem. Sie nutzten seit 2002 die freie Lizenz von BitKeeper zur Versionskontrolle ihres Quellcodes. Dies war nicht unumstritten. Sollte ein so großes, freies Projekt wie Linux mit einem proprietären, nicht quelloffenen Versionierungs-Tool entwickelt werden? Die Frage klärte sich im April 2005 von ganz allein, als BitMover die freie Lizenz von BitKeeper zurückzog und so die Kernel-Entwickler zwang, sich eine Alternative zu suchen. Anstatt auf bestehende Systeme, wie CVS oder Subversion, zu migrieren, verfolgte Projektleiter Linus Torvalds aber einen ganz anderen Weg für das Source Control Management (SCM). Übrigens nannte er SCM einmal den langweiligsten Teil der IT überhaupt, wobei er da eventuell so Dinge wie CDs in Single Speed kopieren vergessen hat.
Torvalds Meinung nach brauchte es ein SCM-System, das mehrere Kriterien erfüllte. Verteiltes Arbeiten und hohe Effizienz waren zwei davon. Als Drittes, und das hätten auch Leonardo da Vincis Notizen gebraucht, musste es eine hohe Sicherheit gegen mutwillige oder unabsichtliche Eingriffe und Veränderungen geben. Keines der auf dem Markt freien Programme konnte das nach Torvalds’ Meinung leisten. Daher programmierte er innerhalb weniger Tage einfach sein eigenes System und nannte es „Git“. Der Name ist Programm. Zwar meinte Torvalds erst, Git könnte alles bedeuten. In einem späteren Interview bezeichnete er sich jedoch als egoistischen Bastard, der alle seine Projekte nach sich selbst benennt. Erst Linux, nun Git, was so viel bedeutet wie „Dickkopf“. Da Linux nicht wirklich von Torvalds nach sich benannt wurde, dürfte die Anekdote wohl eher eine Erfindung sein. Aber wie auch immer, der Dickkopf sollte recht behalten. Git begeisterte und mauserte sich zu einem gern genutzten Tool. So richtig Fahrt nahm es aber erst auf, als Anfang 2008 GitHub gestartet wurde. GitHub bietet Software-Entwicklern die Serverplattform, um ihre Git-Repositories online verfügbar zu machen – für die meisten Zwecke sogar kostenfrei. Diese Kombination entwickelte sich schnell zur weltweit am meisten genutzten Plattform für freie und verteilte Programmierprojekte. Der Erfolg der Plattform ließ sogar viele andere Versions-Tools in die Bedeutungslosigkeit versinken. Selbst Google Code.
Microsoft kauft GitHub: Skandal! Skandal?
Der Erfolg von GitHub weckte bald auch wirtschaftliche Interessen. Wer freie Software hostet, muss nicht zwingend ohne finanzielle Ziele arbeiten. Die GitHub Inc. ist eine Firma, deren Aufstieg mit mehreren Hundert Millionen Dollar Risikokapital angeschoben wurde. Und für die Kapitalgeber sollte sich das schon bald auszahlen. 2018, als GitHub zehn Jahre alt wurde, verkauften die Gründer es an Microsoft. Der Aufschrei in der Entwicklergemeinde war groß. Ausgerechnet Microsoft! Sucht man ein Symbol für den Kommerz in der Software-Entwicklung, es wäre Microsoft und Bill Gates, der – stilistisch übertrieben sicherlich – der „Anti-Christ für die Open-Source-Anhänger“ ist. Bis jetzt haben sich die Befürchtungen jedoch nicht bewahrheitet. Stand heute ist man nicht gezwungen, einen Microsoft-Account zu haben und GitHubs CEO Nat Friedman möchte das auch so belassen. GitHub soll weiterhin eine unabhängige Plattform bleiben.
Der Kreis schließt sich bei Bill Gates
Ob Leonardo da Vinci seine Dokumentation, seine Verbesserungen (Updates) und seine Pläne wirklich in GitHub gespeichert hätte, weiß niemand. Sicherlich wäre ihm die Nachvollziehbarkeit und vor allen Dingen der Schutz der Integrität seiner Arbeit entgegengekommen. Andererseits lag dem Meister scheinbar nichts an einer offenen, freien Weitergabe seines Wissens, wenn an der These der Spiegelschrift zum Schutz vor fremden Blicken etwas dran ist. Der Schnittpunkt zwischen da Vinci und GitHub liegt allerdings woanders: bei Bill Gates. Die von ihm gegründete Microsoft Inc. ist mittlerweile nicht nur Besitzer von GitHub. Dem ehemals reichsten Mensch der Welt gehört der Codex Leicester, ein 72-seitiges handschriftliches Manuskript da Vincis mit vielen Zeichnungen. Gegenüber den 6,4 Milliarden Dollar, die GitHub gekostet hat, war es geradezu ein Schnäppchen. Gates bezahlte am 11. November 1994 bei einer Auktion des Auktionshauses Christie’s gerade mal 30,8 Millionen Dollar dafür. Die Seiten des Codex sind trotzdem die teuerste jemals verkaufte Handschrift der Welt. Und auch wenn auf GitHub keine digitale Version davon zu finden ist. Einige Seiten vom Codex Leicester wurden mit Windows 95 (als Microsoft Plus!), Windows 98 und Windows ME der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Als Bildschirmschoner mit dem schönen Namen „Leonardo da Vinci“.